----- Original Message -----
From: "Ole Streicher" <ole-usenet-***@gmx.net>
Newsgroups: de.sci.philosophie
Sent: Monday, February 16, 2009 3:49 PM
Subject: Re: Was ist eine historische Tatsache?
Hallo Ole!
Post by Ole StreicherHallo Heinz,
Post by Heinz SchusterhennesDie Wissenschaften von Menschen haben ein Objekt, das es in der Natur
sonst nicht gibt, nämlich das Selbst.
Da würde ich widersprechen. Wenn man (z.B.) Geschichtswissenschaft
betreibt, dann beschäftigt man sich nicht mit sich selbst, sondern mit
anderen Menschen (bzw. mit einer anderen Gesellschaft). Das
untersuchte Objekt ist also zwar von der gleichen Art, aber nicht das
Selbst.
Wissenschaften vom Menschen können nie von der Tatsache abstrahieren, dass
der Mensch ein Selbst ist, also ein Subjekt, das sich aus
erkenntnistheoretischen Gründen nicht vollständig objektivieren lässt. Darum
ist das Objekt der Wissenschaften vom Menschen, nämlich der Mensch, kein
Objekt wie andere Objekte. Das Individuum hat einen einzigartigen Zugang zu
sich selbst. Nur das Ich kann mit Recht Ich zu sich sagen. Dieses
Insider-Wissen kann man von außen, durch Beobachtung nicht erwerben. Und
hier liegt der Hase im Pfeffer.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesWährend beispielsweise ein Element ein Element ist, unabhängig von den
Meinungen der Subjekte - ist es dem Selbst gerade eigentümlich, dass
bestimmte Probleme für es von Bedeutung sind. Dies heißt auch, dass es
kein Selbst ohne Sprache und Sprachgemeinschaft gibt. Daher kann ein
Selbst nicht als unabhängig von dem konzipiert werden, was Subjekte über
es meinen.
Natürlich kann. Man kann die Geschichte eines polynesischen Volkes
untersuchen. Das ist nicht die eigene Geschichte. *Mein* Selbst und
*Meine* Sprachgemeinschaft sind nicht unbedingt abhängig von der
Sprache und der Sprachgemeinschaft der Polynesier.
Darum können wir aber auch die Geschichte des polynesischen Volkes nicht
erforschen, ohne mit diesem Volk in einen Dialog zu treten oder uns mit
Bedeutungsträgern, die dieses Volk geschaffen hat, auseinanderzusetzen. Mit
einem Quark müssen wir nicht in Dialog treten, wir können es ja auch gar
nicht. Dies macht einen gewaltigen Unterschied.
Post by Ole StreicherIch kann sogar Aussagen über die eigene Geschichte machen, da unser
"Selbst" zwar aus der Vergangenheit resultiert, aber nicht mit dem
Vergangenen identisch ist.
Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch die Menschen der
Vergangenheit ein Selbst hatten - und daher nicht bloß physikalische Objekte
waren.
Post by Ole StreicherUnser Selbst ist ja auch z.B. abhängig von der kosmologischen
Entwicklung -- ja wir sind selbst sogar Teil dieser Entwicklung.
Trotzdem kann ich über die kosmologische Entwicklung mit
naturwissenschaftlichen Kriterien entscheiden.
Der Kosmos ist nicht das Selbst. Ich sprach von den Wissenschaften vom
Menschen.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesUnd so ist der Mensch kein Objekt wie andere Naturgegenstände.
Das scheint mir zu schnell geschlossen.
Keineswegs. Der Mensch bewegt sich - um mit Taylor zu sprechen - immer in
einem Raum von Fragen zum guten Leben. Er kann gar nicht anders. Dies ist
eine transzendentale Bedingung seines Bezugs zur Welt. Dadurch ist der
Mensch als Objekt unter Objekten einzigartig.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesDaraus folgt eigentlich zwingend, dass die Kriterien für die Wahrheit von
Aussagen über Menschen und deren Geschick sich fundamental von den
Kriterien unterscheiden müssen, an denen wir naturwissenschaftliche
Aussagen messen.
Nö :-) Man kann durchaus Aussagen zu verschiedenen Objekten mit den
gleichen Kriterien messen.
Man kann alles Mögliche. Ob es sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt.
Post by Ole StreicherIch kann durchaus biologische Aussagen über Menschen machen und diese
nach naturwissenschaftlichen Kriterien messen (sagen wir mal: seine
Zellbestandteile), obwohl "der Mensch" deiner Meinung nach kein Objekt
wie andere Naturgegenstände ist.
Natürlich kann ich Aussagen über menschliche Zellen oder andere Bestandteile
des menschlichen Körpers machen, ohne auf die Selbstheit des Menschen zu
rekurrieren, Aber dass der Mensch aus Zellen besteht, macht sein Menschsein
nicht aus. Wenn ich den Menschen als geschichtlich handelndes Wesen
verstehen will, so genügt es nicht, nur Aussagen über körperliche Strukturen
und Funktionen zu machen. Genau darum führen ja auch die
neuro-wissenschaftlichen Ansätze, sofern sie Philosophie und Psychologie zu
ersetzen trachten, zu schierer Narretei. Die Subjektivität des Menschen
bringt eine /Unberechenbarkeit/ ins Spiel, die sich neurologisch nicht
modellieren lässt. Von den Neuro-Wissenschaftlern hören wir immer nur das
Versprechen, dass sie die Subjektivität irgendwann einmal neurologisch
erklären könnten. Aber sie wissen noch nicht einmal, welcher Weg dorthin
führen könnte. Das sind also nur leere Versprechungen.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesIn einem anderen Post hast du nun Objekte angeführt, die angeblich, so
deine Sicht, die gleiche Funktion erfüllen könnten wie die objektiven
Resultate eines naturwissenschaftlichen Experiments.
So richtig widersprochen hast du in dem konkreten Beispiel auch nicht.
Post by Heinz SchusterhennesDu meintest, dass Geschichtswissenschaftler ähnlich wie
Naturwissenschaftler vorhersagen könnten und müssten, wann und wo ein
Objekt zum Beleg einer historischen These auftauchen und welche
Eigenschaften es haben müsste.
Das wäre eine Möglichkeit. "Belege" sind aber sicher nicht die einzige
Möglichkeit, Dinge in Geschichte vorherzusagen.
Die Geschichtswissenschaften beziehen sich aber überwiegend auf schriftliche
Zeugnisse oder auf irgend welche Artefakte, denen eine mutmaßliche Bedeutung
innewohnt, die von Menschen in sie hineingelegt worden ist
(Gegenstandsbedeutungen). Ein ausgegrabene Axt beispielsweise verweist durch
Form und Beschaffenheit auf die Weise ihres Gebrauchs. Form und
Beschaffenheit aber sind Resultate menschlichen Handelns und somit immer
bedeutungshaltig. Das, was die Axt zur Axt macht, ist Bedeutung und kann
darum gar nicht naturwissenschaftlich erforscht werden, denn es gibt keine
Naturwissenschaft der Bedeutung.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesNimm beispielsweise eine Akte zum Beleg einer historischen
These. Diese Akte ist ein System von Bedeutungen. Doch mehr als
das. Sie kann auch unterschiedlich interpretiert werden.
Sicher -- dann sind solche Akte eben keine guten Arbeitsmittel.
Es gibt aber nur Arbeitsmittel dieser Art.
Post by Ole StreicherAber du hattest als Beispiel ja selbst einen Vertrag genannt und das
Beispiel der Fälschung angeführt. Ob eine Urkunde eine Fälschung ist,
ist eben mit naturwissenschaftlichen Mitteln (zumindest im Prinzip)
feststellbar.
Das ist häufig keineswegs mit naturwissenschaftlichen Mitteln feststellbar.
Im Mittelalter wurden beispielsweise sehr häufig Urkunden gefälscht, um
Besitzansprüche zu untermauern. Dazu wurden natürlich nur Materialien
verwendet, die damals in Gebrauch waren. Wie willst du da mit
naturwissenschaftlichen Methoden feststellen, ob es sich um eine Fälschung
handelt?
Post by Ole StreicherWenn eine geschichtliche Theorie also vorhersagt, dass
ein bestimmter Vetrag nicht existiert, sich aber gut nachweisen lässt,
dass es diesen gibt, dann hat die Theorie ein Problem.
Das widerspricht meiner Position nicht. Allerdings geht es hier nicht um
einen naturwissenschaftlichen Existenznachweis, jedenfalls nicht in erster
Linie. Die Naturwissenschaften könnten allenfalls nachweisen, dass ein
Vertrag beispielsweise 500 Jahre später hergestellt wurde. Dass aber der
Vetrag tatsächlich relevant ist hinsichtlich der Theorie, dies kann
überhaupt nur geisteswissenschaftlich geklärt werden.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesDenn die Interpretation hängt immer vom Kontext ab. Den Kontext der
Bedeutung der von Menschen geschaffenen Objekte finden wir aber in
der Natur nicht vor, wir konstruieren ihn.
Der Kontext der Bedeutung *aller* Objekte hängt vom Menschen
ab. "Bedeutung" ist (sofern man dieses Wort in einer Theorie überhaupt
benötigt) immer etwas, was wir einem Objekt zuordnen; es ist ihm nie
von sich aus innewohnend.
Du hast es nicht verstanden oder willst es nicht verstehen. Die
geisteswissenschaftlichen Objekte /haben/ nicht nur Bedeutung. Sie sind
/Bedeutung/. Sie bestehen aus nichts anderem. Dies trifft auf physikalische
Objekte nicht zu. Ein Vertrag ist ein System von Bedeutungen, sonst nichts.
Die Art des Papiers, auf dem er steht, ist unerheblich, was das Vertragliche
des Vetrages betrifft. Man könnte ihn auch auf Steintafeln ritzen. Das ist
doch beliebig.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesDer Natur wohnt kein spezifischer Kontext menschlicher Bedeutungen
inne.
... was (in einem soziobiologischen Sinne) nicht direkt überzeugt. Ich
kann eine menschliche Gesellschaft (sagen wir mal die Bayern, die
alten Ägypter, eine Neandertalerhorde oder eine frühe Form der
Gemeinschaft des Homo Erectus) genauso untersuchen wie ich es mit
einer Horde Schimpansen kann oder einem Rudel Wölfe, einem Fischschwarm,
einem Ameisenstaat oder einer Zellkolonie tue.
Nein. Das kannst du nicht. Weil menschliche Gemeinschaften aus Wesen
bestehen, denen Selbstheit eignet, die sich also in einem Raum von Fragen
bewegen, die sich auf das gute Leben beziehen. Dies setzt eine hoch
symbolisierungsfähige Sprachgemeinschaft voraus. Dadurch entstehen völlig
andere Bedingungen. Die Physik der Quarks hängt nicht davoin ab, was diese
sich unter einem guten Leben vorstellen. Das Verhalten eines Menschen aber
schon.
Post by Ole StreicherFür keine dieser Gemeinschaften wohnt der Natur ein "spezifischer
Kontext" inne. Warum sollte ich also ein südliches Bergvolk anders
untersuchen als eine Zellkolonie? Nur weil erstere hier mitlesen
und verstehen können? (was ist dann mit den Ägyptern?)
Eine Zellkolonie ist keine Sprachgemeinschaft. Wenn man von
Zellkommunikation spricht, so ist dies allenfalls in metaphorischem Sinne
zutreffend. Zellen tauschen keine Bedeutungen aus. Bedeuten - das kommt von
deuten. Menschen deuten, verweisen auf Gegenstände und verbinden mit diesen
verweisenden Gesten einerseits Handlungsabsichten und andererseits
Bewertungen (Gefühle, Ausdruck der Zuneigung oder Abscheu beispielsweise).
Sie lösen diese Gesten aus den situativen Bezügen heraus und ersetzen sie
durch Zeichen, mit denen sie kommunizieren. All dies hat Selbstheit zur
Voraussetzung - und Objekte, denen diese Selbstheit nicht eignet, die können
auch nicht so analysiert und erforscht werden Menschen. Auch Tiere, sogar
die höher entwickelten, lassen sich so nicht analysieren, schon allein darum
nicht, weil sie nicht zur Handlung befähigt sind. Dazu müssten sie in der
Lage sein, Erwartungen zu bilden, Mittel zur Zielerreichung auszuwählen und
sich bewusst Ziele zu setzen. Das aber können sie nicht, die niedlichen,
süßen Tierlein.
Post by Ole StreicherPost by Heinz SchusterhennesDaher sind die Wissenschaften vom Menschen Diskussionswissenschaften, in
denen Wirklichkeitsmodelle miteinander verglichen, ihre Implikationen und
Voraussetzungen disputiert werden.
Wenn man sie miteinander vergleicht, muss man ja Kriterien des
Vergleiches haben. Und die scheint es mir dabei nicht zu geben, was
Deine Aussage hier etwas bedeutungslos erscheinen lässt.
Natürlich gibt es Kriterien. Hätte ich je etwas anderes behauptet? Es sind
nur nicht die Kriterien der Naturwissenschaft. Es gibt ja auch Kriterien der
Schönheit von - sagen wir - Bildern oder Musikstücken. Nur kann man darüber
nicht in naturwissenschaftlichen Begriffen disputieren. Deratiges lässt sich
nicht quantifizieren. Klar: Es hat Versuche einer "naturwissenschaftlichen",
quantitativen Ästhetik gegeben. Was dabei herauskam, war das Übliche:
Narretei.
Gruß
Heinz